Leseprobe



 

Gegen Mittag verbesserte sich das Wetter zusehends. Der heftige Wind hatte nachgelassen, und es zeigten sich wieder erste Sonnenstrahlen am wolkenbehangenen Himmel. Inzwischen war die Gesichtsblässe bei jenen Gästen verschwunden, die auf das morgendliche Frühstück verzichtet oder nicht bei sich behalten hatten. Minütlich nahm die Anzahl der Liegen zu, die entweder von Gästen oder nur mit deren Handtüchern belegt wurden.

Vorsorglich belegte man gleich zwei oder drei der begehrten Liegen, um auch bei wechselndem Sonneneinfall gerüstet zu sein. Wer aber glaubte, damit größte Anerkennung vom Partner zu erhalten, sah sich schnell wieder getäuscht.

„Schatz, hast du auch im Raucherbereich zwei Liegen für uns reserviert?“ 

Nachdem die Eigentumsverhältnisse nun abgeschlossen und endgültig geklärt waren, zogen sich viele Gäste ins Restaurant zurück, um dem leeren Magen einen kulinarischen Schwerpunkt zu verschaffen.

Gesittet und mit heißen Tellern ausgestattet, zogen Jung und Alt an den Suppen, Salaten und Soßen vorbei, um auf dem Rückweg noch Gesottenes und Gebratenes kunstvoll hinzuzufügen. Da lagen nun die unterschiedlichsten Geschöpfe nebeneinander auf dem Teller, die sich in der Natur immer aus dem Weg gegangen, geflogen oder geschwommen waren. Einige der Gäste hätten sich daran ein Beispiel nehmen sollen.

Aus dem ursprünglichen „Dreiertisch“ war zwischenzeitlich ein „Sechsertisch“ geworden. Gemeinsam genossen Judith, Holger, Gitte, Ralf, Christine und Norbert ihre bunten Teller.

„Kannst du mir bitte mal den Rotwein rüberreichen, Holger?“

„Gerne Judith, ich gieße ihn dir sogar ein.“

„Ich würde dir auch mal gerne etwas eingießen“, witzelte Ralf.

„Aber nicht nur Rotwein“, ergänzte Gitte und lachte lauthals los.

Sie fand es sehr schade, dass Holger wohl erfolgreich bei Judith gelandet war, und nicht ihr Ralf.

Da wird wohl nichts aus einem flotten Dreier.

„Wie fandet ihr übrigens gestern Abend die Girlanden in den Kabinengängen?“, wollte Norbert wissen. 

„Du meinst sicherlich die vielen Kotztüten überall“, konterte  Holger blitzschnell.

„Und ich dachte schon, es gäbe einen neuen Mottoabend“, frotzelte Gitte

„Von wegen, die Krankenstation war sprichwörtlich brechend voll“, gab sich Christine gut informiert und sah Norbert vielsagend dabei an.

Aber dieser konzentrierte sich lieber auf das Stück Rindfleisch, das vor ihm auf dem Teller lag. Die Tabletten, die er abends geschluckt hatte, sollten drei Stunden vorher genommen werden. So verbrachte er einige Stunden in der Nasszelle der Kabine. Doch jetzt verspürte er wieder einen großen Appetit.

„Können wir bitte, während wir essen, das Thema wechseln?“, schob Judith ein, die die ganze Zeit über geschwiegen hatte.

„Dann schlag doch mal etwas vor, was wir heute Nachmittag alle zusammen machen könnten,“ ermunterte Holger sie, „ich bin jedenfalls mit dabei.“

„Was haltet ihr von Shuffle-Board, das wollte ich immer mal spielen“, schlug Christine vor.

„Du meinst dieses Hüpfspiel, das mit Kreide auf dem Boden aufgezeichnet wird?“, gab sich Ralf begriffsstutzig.

„Von wegen Hüpfspiel, da verwechselst du etwas aus deiner Kinderzeit. Ich meine dieses traditionelle Gruppenspiel, das auf Kreuzfahrten gespielt wird“, konterte Christine zurück.

„Ja, Gruppenspiel, das würde mir jetzt gefallen“, schob Ralf süffisant ein und sah die Frauen nacheinander und vielsagend an.

„Ralf meint etwas ganz anderes, lass dich durch ihn nicht aus dem Konzept bringen. Ich habe bisher noch kein Shuffle-Board gespielt. Kannst du den Spielablauf mal kurz erklären?“, wollte Gitte wissen.

„Kann ich, bin ja längst fertig mit dem Essen.“

Christine schob den benutzten Teller zur Seite und nahm noch einen Schluck Wein.

„Also, das geht so. Du nimmst einen Cue. Das ist ein 1,90 Meter langer Stab mit einer u-förmigen Gabel am Ende. Damit versuchen du und deine Mitspieler von der einen Seite des Spielfeldes abwechselnd jeweils eine kleine Scheibe auf das Dreieck der anderen Seite zu schießen. Sind von beiden Seiten sämtliche Disks gespielt worden, werden die jeweiligen Punkte, die du in der Zahlenpyramide siehst, addiert oder abgezogen.

Gespielt wird solange, bis eine vorher vereinbarte Punktzahl erreicht ist.  Wer sie zuerst erreicht hat, hat gewonnen. Es gibt da noch eine weitere Variante mit sogenannten Frames, aber das erkläre ich dann gerne später mal. Wer die höchste Punktzahl erreicht hat, der hat das Match gewonnen.“

„Besser hätte ich es auch nicht erklären können,“ gab sich Ralf gut informiert.

„Ja ne, is klar“, zitierte Gitte Comedy Star Atze Schröder.

„Ich mache jedenfalls mit, dann lerne ich das Spiel mal richtig kennen. Und erst recht dann, wenn man von einem so hübschen Coach unterrichtet wird“, fügte Gitte noch lächelnd hinzu.

Ohne Ausnahme schlossen sich alle ihrer Meinung an und vereinbarten, sich um 15 Uhr erneut zu treffen.

Irgendwie musste doch dieser Nachmittag auf See gestaltet werden. Morgen würde es für alle ein anstrengender Tag werden. Nach dem Anlegen in Dover waren erst mal zwei Stunden Busfahrt angesagt. Gemeinsam wollten sie dann die Weltstadt London mit ihren Sehenswürdigkeiten erkunden.

Mit Ausnahme von Holger. Bei ihm stand diesmal Canterbury auf dem Plan, da er London in der Vergangenheit bereits mehrfach besucht hatte.

Auch sollte der Eindruck vermieden werden, dass er mit Judith ein Verhältnis hatte.

Judith akzeptierte seine Entscheidung, auch wenn sie es sich anders gewünscht hätte. Zu stark wirkten noch die Stunden nach, die sie gemeinsam in ihrer Kabine voller Leidenschaft verbracht hatten. Holgers Frau Rita durfte davon niemals etwas erfahren. Immerhin lief die Firma auf ihren Namen, und sie könnte Holger in größte Schwierigkeiten bringen, wie Holger ihr später erzählte.

Aber warum sollte nicht auch mal eine Frau Druck auf den Partner ausüben? Schließlich hatte sie selbst zu oft unter ihrem Ex leiden müssen. 

Der Nachmittag verging wie im Flug, und man versprach, sich am Abend wieder an ihrem gewohnten Tisch zu treffen.

Gleich nach dem Spiel löste sich die Shuffle-Gruppe auf, um eigenen Interessen nachzugehen.

Judith zog es vor, etwas für ihre Figur zu tun und verabschiedete sich von allen mit einem fröhlichen:

„Bis später dann, wir sehen uns.“

Kurz hatte sie ihre Kabine aufgesucht, um sich dort ihre Sportkleidung anzuziehen. Darin kam ihre Figur besonders gut zur Geltung, fand sie. Die Blicke der Frauen waren nicht immer sehr schmeichelhaft, ganz im Gegensatz zu denen der Männer. 

Auch Holger hatte ihr Selbstbewusstsein merklich gesteigert. Sie würde eines Tages schon den richtigen Mann finden. Da war sie sich ganz sicher.

Dann warf sie sich ein Handtuch über und zog die Kabinentür leise hinter sich zu. Der 100 Meter lange Kabinengang gehörte schon mit zu ihrer Aufwärmphase. Mit großen Schritten nahm sie das Streifenmuster des Teppichs. Als sie kurz hochblickte sah sie am Ende des Ganges eine männliche Person stehen, die wohl auf sie zu warten schien. Ihr gefror förmlich das Blut in den Adern, und die Beine wurden schwer wie Blei.

 

 
 
 

 Bitte nicht, … bitte, bitte nicht hier und jetzt.

Judith war beim Anblick des Mannes stehengeblieben und versuchte das Gesicht zu erkennen, was aufgrund der spärlichen Beleuchtung und Entfernung nicht möglich war. Dieser hatte sich an die Wand gelehnt und schien auf etwas zu warten. Schiere Panik kam in ihr hoch.

Der wartet auf mich, um mich umzubringen. Wie oft hat er mir geschworen, mich unter die Erde zu bringen. Unter die Erde? Hier gibt es keine Erde, nur 180 Meter tiefes Wasser. Und Wasser hinterlässt keine Spuren. Nicht in dieser unendlichen Weite. Ich darf jetzt nur nicht den Fehler begehen, zu meiner Kabine zurückzugehen. Damit würde ich ihm ja meine Kabine zeigen und hätte keine Nacht mehr Ruhe vor ihm.

Einige Meter vor ihr entdeckte Judith eine graue Metalltür. Schon öfters hatte sie den Text auf der Beschilderung gelesen, wenn sie daran vorbei kam:

„Not for Passengers, for Crew only."

Kurz konzentrierte sie sich auf ihren Körper, dessen Blutbahnen hörbar zu pulsieren schienen. Dann setzte sie zu einem Sprint an, um die rettende Tür zu erreichen. Im selben Augenblick löste sich die Gestalt von der Wand und setzte sich in ihre Richtung in Bewegung.

Bitte lass mich die Tür öffnen können.

Judith fühlte die Klinke in der Hand und stieß mit Erleichterung die Tür nach innen auf. Sogleich veränderte sich die Luftströmung und Akustik. War es eben noch eine gedämpfte und windstille Umgebung, hörte sie nun von überall metallische Geräusche. Dazu spürte sie einen  kräftigen Windsog, der von den unteren Decks nach oben zog.

Mit lautem Knall schloss sich die schwere Crewtür hinter ihr. Judith schaute kurz hin, ob sich diese vielleicht verschließen ließ. Dies war wohl aus Sicherheitsgründen nicht vorgesehen. Ihr hätte dies Sicherheit geben können, zumindest für diesen Moment.  

Welche Richtung soll ich nur nehmen? Er wird sicherlich denken, dass ich nach unten laufen werde, weil ich dann schneller bin. Also nach oben.

Zwei Stufen gleichzeitig nehmend lief sie die ersten beiden Treppen hoch. Ganz deutlich war zu hören, dass unten eine Eisentür zuschlug. Auch Schritte auf der Treppe waren zu vernehmen.

 
   

                                       

Jetzt nur keine Panik, bloß keine Panik. Es muss doch eine Möglichkeit geben, sich hier zu verstecken. Verdammt noch mal … Schränke sind doch genug vorhanden.

Mit angehaltenem Atem versuchte Judith die mannshohen Metallschränke zu öffnen. Die meisten waren jedoch verschlossen. Als sie schon aufgeben wollte und im Begriff war, noch ein Deck höher zu laufen, erblickte sie einen leeren offenen Schrank, der ein wenig weiter etwas verdeckt stand.

Wenn ich den erreichen sollte, bevor Jürgen hier ist …

Beherzt und entschlossen sprang sie in den Schrank und zog die Tür hinter sich zu. Dann lauschte sie nach draußen. Deutlich waren Schritte zu hören, die näher zu kommen schienen. Eine der abgeschlossenen Schranktüren wurde wohl geöffnet und zwei Männerstimmen drangen an Judiths Ohr.

Solange diese Männer hier sind, kann mir nichts passieren, aber sicherlich muss ich das Schlimmste befürchten, sobald sich das ändert und der Weg für Jürgen wieder frei ist. Ich kann nur noch darauf hoffen, dass er nicht mitbekommen hat, wo ich mich befinde.

Doch dieser Moment konnte schon bald eintreten, denn die Männerstimmen schienen sich nun immer weiter von ihr zu entfernen.

Mit einem lauten Knall fiel irgendwo eine Metalltür zu. 

... ff 

zur Rezension von schiffsjournal.de 


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